Wie können schriftliche Quellen aufgenommen, bearbeitet und interpretiert werden, um daraus historische Erkenntnisse zu gewinnen? Vor dieser Herausforderung stehen alle altertumswissenschaftlichen Disziplinen. Jeder einzelne Schritt bringt methodische Schwierigkeiten mit sich. Gerade kleine Fächer müssen oft Methoden importieren, um überhaupt an neuen Entwicklungen teilzuhaben. Die übernommenen Methoden sind jedoch teilweise nicht ideal für das spezielle Quellenmaterial des Fachs geeignet. Dr. Roman Gundacker (ÖAI, ÖAW) zeigte in seinem Vortrag, dass gerade die Ägyptologie mit ihren vielfältigen Schriftsystemen und Textträgern als Musterbeispiel für die beschriebenen Forschungsumstände dienen kann. Ein Teil der besprochenen Forschungsergebnisse ist im Rahmen des ERC Starting Grants „Challenging Time(s): A New Approach to Written Sources for Ancient Egyptian Chronology” entstanden.
Die Ägyptologie stellt schon in Bezug auf den Aufbau des Fachs einen Spezialfall dar: Während sich Archäologie, Klassische Philologie und Alte Geschichte bereits im 19. Jahrhundert zu eigenen Disziplinen entwickelt haben, sind in der Ägyptologie bis heute alle drei Bereiche in einem Fach vereint. Hinzu kommt die große Schriftenvielfalt, mit der sich Ägyptolog:innen auseinandersetzen: Sie untersuchen Texte in Hieroglyphen, hieratischer, demotischer und koptischer Schrift. Die Textträger sind ebenso vielfältig wie die Schriften selbst. Sie reichen von monumentalen Inschriften (z. B. in Abu Simbel) über Ostraka bis hin zu Papyri und Graffiti. Wie nimmt man die verschiedenen Textzeugen am besten auf? Die Methoden haben sich historisch stark gewandelt. Früh wurden bereits Zeichnungen bzw. Stiche angefertigt (z. B. vom Hypostylsaal von Karnak). Viele dieser Zeichnungen sind so präzise, dass sogar die darauf gezeigten Inschriften akkurat abgebildet sind. Eine weitere Methode, die bald zur Quellensicherung genutzt wurde, war der Abklatsch – sogar ganze ptolemäische Tempel (z. B. in Philae) wurden abgeklatscht. Zudem wurden die Methoden der Faksimile-Zeichnung und der Autographie angewendet. Diese Verfahren haben jedoch auch Nachteile: So geben autographische Aufnahmen in Büchern oft nicht viel über das Aussehen des Originals preis. Heute sind Fotografien, die mit einer zusätzlichen 1:1-Umzeichnung kombiniert werden, sowie moderne Methoden der digitalen Epigraphik wie 3D-Scans üblich. Eine Herausforderung stellen dabei technische und rechtliche Einschränkungen wie z. B. Drohnenverbote oder Exportverbote für C14-Proben dar.
Nachdem die Quellen aufgenommen wurden, müssen sie bearbeitet und in Texteditionen formal aufbereitet werden. Die klassische Philologie hat mit der Lachmann-Maas-Methode ein etabliertes Verfahren zur Textkritik entwickelt, das in acht Schritten von der Sammlung der Textzeugen (collectio) bis zur Edition (editio textus) reicht. Die verschiedenen Lesarten der erhaltenen Textzeugen werden systematisch geprüft und miteinander verglichen. Die Ergebnisse der Bearbeitung werden in der Edition abgebildet. Diese kann unterschiedlich aussehen. Ein typisches Format ist die kritische Edition (editio critica) eines Texts. Dabei wird versucht, den ursprünglichen Text anhand der erhaltenen Textzeugen möglichst detailgetreu zu rekonstruieren. Der so hergestellte Text wird in der Regel von einem ausführlichen kritischen Apparat begleitet, wie Gundacker am Beispiel der kritischen Edition von Homers Ilias zeigte. In einem Stemma wird dargestellt, wie die Textzeugen voneinander abhängen. Daneben existiert z. B. die synoptische Edition (editio synoptica). Hier werden die verschiedenen Textversionen nebeneinander abgebildet. Diese Methode wandte etwa Kurt Sethe bei der Edition der Altägyptischen Pyramidentexte an. In den Texten, mit denen sich die Ägyptologie auseinandersetzt, fehlt – anders als im Lateinischen oder Griechischen – oft eine standardisierte Orthographie. Das erschwert die Rekonstruktion des Urtexts zusätzlich. Die Ägyptologie übernahm zunächst die Methoden der Klassischen Philologie, entwickelte diese jedoch weiter. So kombinierte etwa Jürgen Zeidler in seinen Pfortenbuchstudien bei den Texteditionen Abbildung, Umschrift und Übersetzung gemeinsam mit einem kritischen Apparat am Seitenende. Dabei wurden auch verschiedene Schreibvarianten (z. B. Pluralpunkte statt Pluralstriche) aufgezeigt. Einen Urtext rekonstruierte Zeidler im Rahmen seiner textkritischen Methode jedoch nicht.
Eine Gegenbewegung zur Lachmann-Maas-Methode stellt die New Philology dar, die aus der Mediävistik hervorgegangen ist. Maßgeblich war dafür Bernard Cerquiglinis 1989 publiziertes Werk „Éloge de la variante“. Die New Philology fordert, dass der materielle Kontext von Textträgern berücksichtigt werden muss. Das Konzept einer personalisierten Autorenschaft und die Idee eines festen Urtexts werden zugunsten eines „unsteten Texts“ aufgegeben. Das bedeutet, dass die unterschiedlichen Textzeugen als Teil einer variantenreichen Überlieferung akzeptiert werden.
Gundacker zeigte im Vortrag, welchen Mehrwert die New Philology in der Ägyptologie bieten kann. So wurde bei der in hieratischen Texten überlieferten Lehre des Ptahhotep lange davon ausgegangen, dass eine echte historische Person namens Ptahhotep diese Texte verfasst hat. Inzwischen wurde festgestellt, dass dies nicht möglich ist und es sich stattdessen um eine fiktive Lehrautorität handelt. Ein besonders interessantes Beispiel für einen unsteten Text sind die „Lehren des Ani“, die in verschiedenen Versionen überliefert sind. Diese Texte können nicht nach der Lachmann-Maas-Methode rekonstruiert werden, da sie keine einheitliche Ursprungsversion haben. Die Methode ist auch gar nicht darauf ausgelegt, auf jede Art von Textzeugen angewendet zu werden. Ob man der Schule nach Lachmann-Maas oder der New Philology folgen soll, hängt von den Quellen und dem Ziel der Textarbeit ab. Gundacker plädiert dafür, die beiden Zugänge als zwei Seiten der selben Medaille zu betrachten: Am besten werden die Ansätze kombiniert.
Wie Texte durch die Methoden der New Philology mit Gewinn erschlossen und interpretiert werden können, demonstrierte Gundacker am Beispiel der Scheintür des Schepsesptah. Der in acht Kolumnen geteilte Text schildert das Leben des Schepsesptah von seiner Kindheit und Jugend über die Erwachsenenzeit bis ins Alter. In jeder der acht Kolumnen wird ein Pharao erwähnt, unter dem Schepsesptah gelebt hat. Indem entsprechend der New Philology die Anordnung des Texts am Monument selbst berücksichtigt wird, ergeben sich beeindruckende Schlussfolgerungen. Die Scheintür erweist sich nämlich als bewusste Komposition: Die hieroglyphischen Namen der Pharaonen steigen in der Lesefolge mit dem Alter des Schepsesptah an und sinken im hohen Alter wieder ab. Dies zeigt, dass nicht nur der Inhalt, sondern auch die visuelle Gestaltung des Texts von Bedeutung ist.
Gundacker erklärte auch, wie die Methode nach Lachmann-Maas und die New Philology mit Erfolg kombiniert werden können. Ausgangspunkt war die in der Forschung lange umstrittene Frage, ob der Name eines Pharaos Niuserre oder Nirewoser lautete. Durch den Vergleich verschiedener Textzeugen und sprachwissenschaftliche Analyse wurde demonstriert, dass „Nirewoser“ die korrekte Lesung ist. Die Pyramidentexte bieten ein weiteres Beispiel für die praktische Anwendung von Textkritik: Spruch 473, der „Schilfbündelspruch“, weist in den erhaltenen Versionen erhebliche Abweichungen auf. Mit den Methoden der Konjektur und der Revokalisation (Wiedereinsetzung der nicht geschriebenen Vokale) werden die Übereinstimmungen des Texts zu Formeln aus Sargtexten klar. Die unklaren Stellen können damit aufgelöst werden.
Die im Vortrag vorgestellten Beispiele illustrieren die Umstände der ägyptologischen Forschung. Das Zeitalter der Texteditionen ist in der Ägyptologie noch lange nicht vorbei. Viele Texte müssen noch aufgearbeitet werden, ein Ende ist laut Gundacker derzeit nicht in Sicht. Ganze Disziplinen wie die Morphologie oder die historische Sprachwissenschaft stehen in der Ägyptologie erst am Beginn ihrer Entwicklung. Zudem ist das Fach von einer zunehmenden Auslagerung von Spezialgebieten (z. B. die Untersuchung der griechischen und koptischen Texte) geprägt. In der Diskussion wurden die Möglichkeiten und Grenzen der vorgestellten Methoden besprochen. Festgehalten wurde, dass der große Bedarf an noch zu erstellenden Texteditionen auch positiv gewertet werden kann. Wie ein Urtext bestmöglich ermittelt wird, ist Gegenstand anhaltender Debatten in der Ägyptologie. Am besten eignen sich dafür religiöse Texte, die sich wegen ihrer vergleichsweise sicheren Überlieferung auch für die Identifizierung lokaler Varianten eignen. Gundacker betonte jedoch, dass die Suche nach regionalen Dialekten in der Ägyptologie deutlich schwieriger sei als etwa bei griechischen Texten. An wen die in mehreren Metern Höhe angebrachten Texte auf Monumenten wie der Scheintür des Schepsesptah eigentlich gerichtet waren, steht weiter zur Debatte. (Bericht: Micha Teufel)